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Rückeroberung der Stadt durch stadtverträgliche Mobilität

In den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts warben Automobilhersteller damit, dass ihre Fahrzeuge die Straße beleben würden (Opel) oder auf langen Strecken zu Hause wären (Saab). Bei zunehmenden Verkehrsproblemen in Gemeinden und Städten forderten Lobbyisten der Automobilindustrie und Interessensverbände von den Kommunen, Ampelschaltungen und Verkehrsflächen (einschl. Parkraum) zu optimieren. Diese Lobbyarbeit fand ihren Niederschlag in eigenständigen Generalverkehrs- und Verkehrsentwicklungsplänen, die eine primäre Förderung des motorisierten Individualverkehrs (MIV) bewirkten.

Professor em. Dr. Hermann Knopflacher merkte u. a. in Zeitschrift „MY BIKE“ (Ausgabe 2/19, S. 101) an: „Radfahrern wird bewusst, wie furchtbar die Welt durch das Auto wird“. Und die autogerechte Stadt verursacht zunehmend Gesundheit gefährdende Abgase, Lärm und noch immer noch viel zu viele tödliche Verkehrsunfälle und Schwerverletzte. Darüber hinaus zeichnen sich ganze Straßenzüge durch unwirtliche Stadträume ohne Aufenthaltsqualität aus, die von vielen Menschen als unüberwindbare Demarkationslinien empfunden werden.

Die Planung von Verkehrswegen erfolgt bis heute von der Mittellinie bis zum Fahrbahnrand, wobei sich Fuß- und Fahrradverkehr einschl. Verkehrsbegleitgrün auf den verbleibenden Restflächen des öffentlichen Raums zu arrangieren haben. Im Gegensatz dazu wenden Kommunen mit Zustimmung der Politik jedes Jahr Milliardenbeträge der Allgemeinheit auf, damit Wenige ihre Mobilitätsform aufrechterhalten können. Aufwendungen für den Umweltverbund (Fuß- und Radverkehr, ÖPNV, SPNV) werden häufig kritisch hinterfragt und als nicht bedarfsgerecht abgelehnt. Dabei wird übersehen, dass der MIV nicht für die von ihm verursachten Kosten aufkommt und die dafür von der Allgemeinheit aufgewandten Mittel an anderer Stelle fehlen (Schulbau, Sozialer Wohnungsbau etc.). Gleiches gilt auch für den Hochbau, wenn Investoren aus Gründen des Schallschutzes deutlich höhere Aufwendungen haben, die dann durch die späteren Nutzer refinanziert werden müssen. Ohne diesen durch den MIV verursachten Mehraufwand könnten viele Bauvorhaben nicht einmal realisiert werden.

Integrierte Stadtentwicklungskonzepte bieten die besten Voraussetzungen, damit Menschen ihre Städte und Gemeinden wieder als Lebensräume in Besitz nehmen können. Erste Kommunen haben zudem Maßnahmen ergriffen, um den Stellplatzschlüssel an die Qualität guter ÖPNV-Anbindungen anzupassen. Weitere Schritte müssen dringend und zeitnah folgen, damit der Umweltverbund wieder zum Rückgrat der Mobilität für alle Menschen wird.

Obwohl das Zufußgehen nicht nur die einfachste und stadtverträglichste Form der Mobilität darstellt, finden Fußgänger lediglich in stark kommerzialisierten Fußgängerzonen geschützte Biotope. Dadurch bleibt die Stadt der kurzen Wege weiterhin Lippenbekenntnis denn praktisch und kosteneffizient geplante Realität. Und dies, obwohl gerade der Fuß- und Radverkehr wesentlich zum Zusammenhalt der Stadtgesellschaft beitragen. Denn in immer stärker von der Außenwelt hermetisch abgeschotteten Kraftfahrzeugen fühlen sich Menschen von der Gesellschaft losgelöst, was zu Lasten der sozialen Kontrolle öffentlicher Räume geht und der Zunahme subjektiver Kriminalitätsfurcht Vorschub leistet.

Die zumeist bis zu 23 Stunden am Tag abgestellten Fahrzeuge fördern die Unsicherheit vieler Menschen, weil Autos in urbanen Räumen Hör- und Sichtbarrieren bilden. Größer werdende Fahrzeuge lassen zunehmend nicht nur kleine Kinder „verschwinden“. Gleichzeitig verschatten die am Fahrbahnrand abgestellten größeren Fahrzeuge die dahinter liegenden Gehwegbereiche, weil die Straßenbeleuchtung primär auf die Fahrbahn ausgerichtet ist. Angesichts des demographischen Wandels mit zunehmenden Anteilen älterer Menschen sollte diesem Aspekt von allen an Planungsprozessen Beteiligten deutlich mehr Beachtung geschenkt werden. Denn schon heute geht die Schere zwischen gefühlter und tatsächlicher Kriminalität deutlich auseinander, was wiederum die gesellschaftliche Teilhabe einschränkt.

Stadtverträgliche Mobilität sollte keine Werbung benötigen, sondern selbstverständlich sein. Zugestellte und vermüllte Geh- und Radwege gehen ebenso zu Lasten des Umweltverbundes wie geplante Ladeinfrastrukturen für die propagierte Elektromobilität, deren einziger Vorteil darin besteht, einen lokal emissionsfreien Antrieb zu gewährleisten.

Die in Politik und Verwaltung tradierten Mobilitätsnormen lassen sich nur mit großem Engagement und integrierten Stadtentwicklungsplänen/-programmen aufbrechen, damit Menschen in Zukunft öffentliche Räume mit hoher Aufenthaltsqualität und frei von Kriminalitätsfurcht nutzen können. Vielleicht beginnt dann die „Fahrt ins Grüne“ zu Fuß oder endet mit dem Fahrrad an der nächsten stadtverträglich umgestalteten Straßenecke auf einer chilligen Sommerterrasse (im Sommer Außengastronomie, im Winter Parkplatz) eines wieder eröffneten Cafes!?

Bauassessor / Stadtplaner AKNW
Dipl.-Ing. Wilfried Brandt

Wilfried BrandtDieser Text von Wilfried Brandt ist ein Beitrag zum Deutschen Architektenblatt, Ausgabe NRW 12/2019.

Von ihm stammt auch der Gastbeitrag “Nahmobilität” in “Zukunft Mobilität” aus dem Jahr 2013.

Motiv: Bordeaux/Frankreich. Foto: Christian Wendling

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